~~~~~~~~~~ PÄDOPHILIE ~~~~~~~~~~ Interview der schwulen AsTA Hamburg mit Gunter Schmidt, Professor für Sexualwissenschaft an der Abteilung für Sexualforschung der Universität Hamburg, am 20.5.1997 Ununterbrochen berichten die Medien reißerisch über sexuelle Gewalttaten an Kindern. Die längst in unserer Kindheit vergraben geglaubte Figur des "Mitschnackers", des "lieben Onkels, der mit Schokolade lockt", ist wieder hervorgekramt worden. Im Medien- diskurs wird dabei undifferenziert alles in einen Topf geworfen: Sexualmord, Exhibitionismus, Pädophilie. Forderungen nach Kastrationen werden gestellt. Um den tatsächlichen Schutz von Kindern geht es den Medien und den PolitikerInnen, die sich laut- stark zu Wort melden, wohl kaum. Mit der Inszenierung des "Kinderschänders" als neues kollektives Feindbild wird gleichzeitig auch sexuelle Gewalt in Familien unter den Teppich gekehrt. Auch wird es geschaffen und instrumentalisiert, um von anderen Problemen dieser Gesellschaft abzulenken. Das Schwuleninfo läßt an dieser Stelle einen Experten zu Wort kommen, um eine überlegte, differenzierte Position darzustellen. (Q) Wie definieren Sie Pädophilie? Pädophile sind Männer (und Frauen), die hinsichtlich Sexualität, Beziehung und Liebe vorrangig oder ausschließlich auf vorpubertäre Kinder ausgerichtet sind, wobei diese drei Bereiche, wie bei anderen Menschen auch, individuell unterschiedlich gewichtet sein können. Zu unterscheiden ist zwischen Inzest und Pädophilie: Inzesttäter sind in der Regel keine Pädophilen sondern heterosexuelle (oder auch homosexuelle) Männer, die sich an ihren Kindern oder Kindern aus dem Verwandtenkreis vergreifen. Hier hat die familiäre Ge- schichte, Beziehung und Dynamik eine Bedeutung, die bei Pädophilen keine Rolle spielt. (Q) Kann man Mißbrauch und Pädophilie überhaupt unterscheiden? Für viele ist heute jede sexuelle Handlung von Erwachsenen an oder mit Kindern ein sexueller Mißbrauch, weil Kindern die Sexualität von Erwachsenen fremd ist, sie das nicht wollen und der Erwachsene sie unter Ausnutzung seiner Machtstellung sexuell ausbeutet, um seine Befriedigung zu erlangen. Insofern ist in der heutigen Diskussion keine Unterscheidung vorhanden. Der Pädophile ist der Mißbraucher, es sei denn, er lebt abstinent. (Q) Ist Pädophilie ein Begehren, das mit Hetero- und Homosexualität vergleichbar ist? Pädophilie ist eine Sexualform, bei der zunächst einmal, ganz ähnlich wie bei Hetero- und Homosexualität, mehrere Intentionen zusammenkommen: Das Verlangen nach Sexualität und sexueller Befriedigung, der Wunsch zu verführen und begehrt zu werden, aber auch der Wunsch oder die Sehnsucht nach einem Partner/einer Partnerin, mit dem/der sich eine längere Beziehung und auch Liebe verwirklichen lassen. Und dennoch besteht ein prinzipieller Unter- schied: Es handelt sich bei einem Erwachsenen und einem Kind nicht um gleichberechtigte, sondern um ungleich starke Partner, und dieses strukturelle Machtungleichgewicht gefährdet die sexuelle Selbstbestimmung des Kindes, überfährt sie. Der große Unterschied an Macht und Einfluß, an Kenntnis und Wissen, an Abhängigkeit und Autonomie, an Besitz usw. macht pädophile Beziehungen ganz besonders, vielleicht unaufhebbar problematisch. (Q) Das strukturelle Machtgefälle findet sich ja in jedem Umgang von einem Erwachsenen mit einem Kind, nicht nur in sexuellen Begegnungen. Was ist der Unterschied zwischen erwachsenem und kindlichem sexuellen Begehren? Kinder haben "natürlich" ein sexuelles Verlangen, sie haben Neu- gierde, sie haben Lust, sich sexuell zu stimulieren, mit anderen Kindern herumzumachen, sich zu zeigen, zu gucken, sich sexuellen Reizen auszusetzen, sexuell zu reden, Witze zu machen usw. Und es sind keineswegs von außen, durch Erwachsene "sexualisierte" Kinder, die das in intensivem Ausmaß machen, sondern Kinder, die ein altersadäquates "gesundes" Interesse an Sexualität haben. Ich glaube allerdings, daß Kinder selten den Wunsch haben, sexuell mit einem Erwachsenen zu verkehren, auch wenn es durchaus im Rahmen der kindlichen sexuellen Neugier liegt zu gucken, wie ein Erwachsener nackt aussieht, oder zu phantasieren, was Vater und Mutter, Erwachsene beim Sex eigentlich machen, wie "das geht". Das kindliche sexuelle Verlangen ist sehr viel weniger zielgerichtet, sehr viel weniger auf die sexuelle Mechanik ausgerichtet, wie wir sie bei den Erwachsenen sehen. Erwachsene Sexualität ist für Kinder in der Regel etwas Fremdes, etwas Ungewöhnliches, etwas Be- drohendes, zumindest, wenn sie ihnen auf den Leib rückt. (Q) Nimmt ein Kind durch den sexuellen Kontakt zu einem Erwachsenen per se Schaden? Sexuelle Handlungen, die unter Zwang, unter körperlicher Gewalt, unter psychischem Druck, unter irgendeiner Form der Erpressung, unter Ausnutzung der Loyalität geschehen, schaden Kindern. Der Schaden ist umso größer, je größer das Ausmaß des subtilen oder ausdrücklichen Zwangs oder der körperlichen Gewalt ist. Anderer- seits gibt eine Reihe von pädophilen Kontakten, die im Hinblick auf die Folgen erheblich überschätzt werden. Die Pädophilen werden heute in der Öffentlichkeit als eine Gruppe von Menschen betrachtet, die sich an Kinder heranmachen und sie zu genitaler Sexualität zwingen. Es gibt aber eine Reihe von Pädophilen, die ihr ganzes Leben lang nichts Anderes machen, als sich in romantischen Phantasien zu verzehren und ein verzichtsreiches, abstinentes Leben führen - mit großem seelischen Aufwand. Es gibt andere Pädophile, die vor Kindern exhibitionieren - ein Ausdruck von in der Pubertät stecken gebliebener Sexualentwicklung- und vielleicht, wenn die Kinder Interesse zeigen, sie zum Anfassen animieren oder sie auffordern, sich auch zu zeigen. Auf dieser Ebene des präpuberalen Sexualspiels, das eher in der Struktur des kindlichen Sexualverhaltens bleibt, wird, so glaube ich, in den allermeisten Fällen kein Schaden verursacht, vor allem, wenn die Handlungen gleichgeschlechtlich sind. Oft werden die Kinder, die so etwas sehen, denken: "Da ist ein alter Mann nicht ganz richtig im Kopf und zeigt seinen Pimmel" und dann zur Tagesordnung übergehen. Alfred Kinsey hat mit Recht vor gut 40 Jahren gefragt: "Was haben wir mit unseren Kindern gemacht, wenn wir glauben, sie könnten durch so etwas Schaden nehmen." Wenn das Kind ein solches Erlebnis zu Hause erzählt und die Eltern sagen, "Du bist mißbraucht worden und das ist furchtbar", die Polizei einschalten, und dann die Maschinerie der Justiz einsetzt, dann passiert zweierlei mit dem Kind. Erstens denkt es, "Was ist mir furchtbares passiert", nimmt also eine Opferrolle für sich an, und zweitens fragt es sich, "Was bin ich für ein schlechtes Kind, daß mir so etwas passiert, warum habe ich nicht das Böse und Gefährliche gespürt, warum erregte das auch meine Neugierde?" Es fühlt sich also schuldig. Die Bewertung solcher Situationen muß wieder in ein gesellschaftliches Gleich- gewicht gebracht werden - in Sorge um Kinder und für Kinder. Das heißt nicht, daß man Kinder nicht vor allen sexuellen Handlungen schützen muß, die sie nicht wollen. (Q) Sie haben sich jetzt sehr stark auf Exhibitionismus bezogen. Wie verhält es sich mit sexuellen Handlungen am Körper von Kindern oder von Kindern an Körpern von Erwachsenen? Ich habe das nicht getan, um zu verharmlosen oder gar zu billigen, sondern um zu differenzieren. Will man ihre Frage beantworten, muß man ganz genau hingucken, muß den Einzelfall beurteilen. Was ist passiert, wo ist der Zwang, was macht es mit dem Kind, in welcher Weise ist es traumatisiert. Es gibt viele pädophile Handlungen, in denen Kinder sehr geschickt - durch Eingehen auf ihr Interesse, ihre Wißbegierde, ihre Bedürfnisse usw. - in eine sexuelle Inter- aktion hineingeholt werden, in die sie immer mehr verstrickt werden und die für das Kind nicht mehr selbstbestimmt sind, selbst wenn es zustimmt oder mitmacht. Die viel gescholtene Studie von Rüdiger Lautmann zeigt, wie auch meine eigene Erfahrung mit Patienten, daß im subjektiven Bewußtsein vieler Pädophiler die Vorstellung vorhanden ist "Ich mache etwas im Konsens, weil es mir gar keinen Spaß macht, mit Kindern etwas zu machen, was sie nicht wollen". So bleiben zwar manche Verführungsversuche stecken, wenn das Kind abweisend ist. Doch die Konsensthese ist prinzipiell fragwürdig, wegen der überlegenen Durchsetzungsfähigkeit der Erwachsenen, ihr Wissen um Interesse und Bedürfnisse der Kinder, ihre Ausnutzung kindlicher Loyalität. (Q) Gibt es langandauernde Kontakte zwischen Kindern und Pädophilen? Man findet gerade bei homosexuellen Pädophilen nicht selten lang- andauernde Beziehungen mit einer ausgeprägten Fürsorglichkeit - sie wollen oft nicht nur Sex haben, sondern für die Kinder da sein, für sie sorgen, in einer - so vertrackt wir das auch finden mögen - Beziehung leben. Der Pädophile bietet sich dann als eine Mischung aus Liebhaber, größerer Bruder, väterlicher Freund an und tut auch oft sehr viel für diese Kinder. Oft nehmen sie sich vernach- lässigter Kinder an und unterstützen diese, nutzen sie auch aus, weil sie ein Zuhause gegen Sex tauschen, an dem der Junge in der Regel nicht interessiert ist. Es gibt eine Untersuchung von Theo Sandfort aus den 70er Jahren, die sicher etwas naiv ist, weil sie noch ganz im Geiste der Liberalität geschrieben ist. Sandfort befragte erwachsene Männer, die als Jungen/Jugendliche längere Beziehungen zu Männern hatten. Diese schilderten das im Nachhinein eher positiv. Nun muß man vorsichtig sein: Die ehemaligen Partner Pädophiler müssen retrospektiv ihren Liebhaber schützen, zu dem sie auch eine Loyalität haben, und sie müssen auch ihre ungewöhnliche Entwicklung rechtfertigen vor sich selbst. Heute wird so etwas gar nicht mehr diskutiert. Da gibt es nur den "Kinderschänder", der immer großes Unheil stiftet. Und wenn er es auch oft tut, lohnt es sich, doch genau hinzugucken und den Einzelfall zu prüfen. (Q) Lautmann führt in seiner Untersuchung an, daß Kinder sich (unbewußt) auf sexuelle Kontakte zu Erwachsenen einließen, um ihr sexuelles Wissens zu erweitern. Was halten sie von diesem Ansatz? Die sexuelle Neugier des Kindes betrifft auch die Sexualität Erwachsener. Dieses Interesse ist, wie Lautmann auch schreibt, nicht von langer Dauer. Genau wie sich Kinder die Pornokiste der Eltern anschauen, ein oder zweimal, und dann ist das Opas und Omas Sex für sie und sie lassen es auch wieder. (Q) Sind Erklärungsmodelle über das Entstehen von pädophilem Begehren brauchbar? Ich weiß nicht, wie die Pädophilie entsteht. Pädophile sind sehr unterschiedlich und die Pädophilie hat sicherlich sehr unter- schiedliche Formen des Entstehens. Eins fällt mir aber bei homo- sexuellen Pädophilen auf: Es sind oft Männer, die selbst emotional sehr vernachlässigt aufgewachsen sind, die in den ersten Jahren keine enge erwachsene Bezugsperson gehabt haben. Später haben sie dann oft - z.B. im Heim - eine sehr enge gleichgeschlechtliche peer-group gehabt, die wie ein Nest war, und in denen sexuelle Spiele der Gleichaltrigen eine wichtige Form war, Intimität auszu- tauschen. Diese Pädophilen bleiben auf der Stufe dieses Nestes stehen, ihre Bedürfnisse in Bezug auf Intimität, Sexualität, Beziehung, Liebe richten sich, obwohl sie älter werden, auf diese Gruppe. Und es kommt etwas anderes hinzu, das Vertauschungsagieren, wie es der Hamburger Psychoanalytiker Adolf-Ernst Meyer genannt hat. Diese Fürsorglichkeit, die man bei vielen Pädophilen anfindet, richtet sich auf die Kinder stellvertretend für sie selbst, sie behandeln ein vernachlässigtes Kind so, wie sie als Kind selber gerne behandelt worden wären, aber sexualisieren diese Beziehung wie in ihrer peer-group früher - was inadäquat ist. Dies ist ein Muster, das man häufig bei homosexuellen Pädophilen beobachten kann, aber keineswegs bei allen. Die Objekte des Begehrens wachsen nicht mit dem eigenen Alter und auch nicht die Formen der Sexualität und Art der sexuellen Bedürf- nisse. Homosexuelle Pädophile nähern sich den Jungen oft als Jungen, ohne sich verstellen zu müssen, sondern weil sie noch eine Form von sexuellem Begehren haben, das dem in Kindheit und Jugend sehr entspricht. Deshalb fällt es vielen von ihnen auch so leicht, mit Kindern in Kontakt zu kommen. (Q) Was halten sie von der gegenwärtigen Darstellung des Themas in den Medien? Zunächst halte ich den Begriff "Kinderschänder" für ganz furchtbar, weil alles, von Exhibitionismus bis Sexualmord, völlig undiffe- renziert unter ihn subsumiert wird, das ist ein Rückfall in den 50er Jahre. Dieser Begriff geht unkritisch durch alle Medien, Moderatorin und Moderator der Tagesthemen benutzen ihn ebenso umstandslos und antiaufklärerisch wie die Boulevard-Presse. In Hinblick auf die Vorgänge in Belgien ist der Begriff zudem eine fragwürdige Verharmlosung. Der Begriff planiert Unterschiede, wo es um Differenzierung geht, und verstellt den Weg zu einer ernsthaften Debatte in der Öffentlichkeit. Er vernebelt und totalisiert: "Wer heute ein Exhibitionist ist, wird morgen ein Mörder sein." Pädophilie aber hat nicht mehr mit Vergewaltigung und Sexualmord zu tun als Heterosexualität. Durch die Form der Thematisierung in den Medien ist auch die Situation der Opfer schwieriger geworden, weil es auch zu einer öffentlichen Stigmatisierung der Opfer kommt. Gerade bei den leichteren Fällen ist es außerordentlich problematisch. Das Outen von Opfern (vor allem von Kindern prominenter Eltern) in der Presse ist schädlich, denn diese Kinder werden von NachbarInnen, FreundInnen, im Kindergarten und in der Schule als Opfer behandelt. Die sexuelle Handlung mag für die Kinder ganz furchtbar gewesen sein, aber diese öffentliche Stigmatisierung verstärkt dies. (Kann das nicht drin bleiben?) (Q) Was halten sie von der viel kritisierten Untersuchung von Lautmann über Pädophile? Das Verdienst von Lautmann ist es, Pädophile, die nicht in klinischen Zusammenhängen stehen, zu Wort kommen zu lassen. Das ist heikel, Lautmann wußte das, und in einer Art vorauseilendem Trotz provozierte er die Reaktionen noch, die er nun beklagt: durch eine distanzlose Rede über seinen Forschungsgegenstand, dadurch, daß er die Geschichten der Pädophilen, ihre subjektive und, (angegriffen, wie sie sind,) oft apologetische Sicht für die ganze Geschichte, die ganze Wahrheit ausgibt. Aber: Es ist aber wissenschaftlich legitim, einer Minorität, ob man sie nun mag oder nicht, eine Möglichkeit zu geben, ihre Sicht der Dinge zu äußern. Deshalb ist die Untersuchung auch zu Recht von der DFG finanziert worden. Auch an der Diskussion um diese Studie läßt sich die Emotionalisierung der Mißbrauchsdebatte ablesen. Die eine Seite überidentifiziert sich mit einer zweifellos marginalisierten und verfolgten Gruppe, die andere Seite, wie der Bremer Soziologe Gerhard Amendt, sieht im permissiven Umgang der Gesellschaft mit der Pädophilie (den nur er zu erkennen vermag) einmal mehr Kulturverfall und -untergang. In der Pädophiliefrage ist die Gratwanderung zwischen Verharmlosung und Hysterisierung außerordentlich schmal. Fast jeder kippt auf der einen oder anderen Seite in den "Abgrund" - hysterisiert oder verharmlost. (Q) Haben Sie Erklärungen dafür, warum die Pädophilie/Mißbrauchs- debatte seit einiger Zeit so heftig geführt wird? Das ist sehr schwierig zu beantworten. Vielleicht haben wir zu lange die Augen verschlossen. Doch es gibt sicher mehrere Faktoren. Zum einen verstößt Pädophilie gegen den Grundkonsens der heutigen Sexualmoral, die eine Verhandlungsmoral ist. Eigentlich eine ganz liberale Moral, die besagt, es ist alles erlaubt, wenn es zwischen zwei gleichberechtigten PartnerInnen selbstbestimmt ausgehandelt wird. Darum sind alle anderen sogenannten Perversionen (oder: was man einmal so nannte), die konsensuell zwischen Erwachsenen statt- finden, weitgehend außer Schußfeuer geraten. Die Pädophilie ist nun eine der wenigen Sexualformen, die offenbar immanent und unaufheb- bar gegen Verhandlungsmoral und sexuelle Selbstbestimmung verstößt, da es keine gleichwertigen Partner gibt. Zum anderen möchte ich mit dem englischen Soziologen Chris Jenks darauf verweisen, daß sich unser Bild von Kindheit in den letzten Jahrzehnten stark verändert hat. Früher gab es ein unsentimentales, in die Zukunft gerichtetes Bild von Kindern, sie sollten es besser haben als wir, aber auch für uns sorgen, wenn wir alt werden. Heute ist dieses Bild einem mehr und mehr nostalgischen Bild gewichen: Das Kind als der letzte Wilde, das natürliche, das authentische, emotionale, schöne Wesen, nach dem wir uns zurücksehnen. Dieser nostalgische, wehmütige Blick bewirkt zweierlei: Zum Positiven einen klareren Blick für die Bedürfnisse des Kindes, seine Wünsche, seine Verletzbarkeit. Zum Negativen einen selbstidentifikatorischen Charakter unserer Beziehung zur Kindheit, eine Tendenz, unsere eigenen Verletzungen in Kinder hineinzuprojizieren, schlimmstenfalls eine selbstbezogene Kindertümelei, wie sie paradoxerweise gerade bei vielen Pädophilen anzufinden ist. Ein weiteres Element ist sicherlich, daß sexuelle Gewalt gegen Kinder in jüngster Zeit offenbar verstärkt in organisierter Form auftritt, wie Belgien gezeigt hat. Der freie Markt in seiner mafiösesten und brutalsten Form kolonisiert immer dreister die verbotenen Sexualitäten, nicht nur die mit Kindern. Und das ist sehr erschreckend. Ferner ist auch die Sexualität von Kindern durch die Liberalisierung der letzten Jahrzehnte sehr viel präsenter geworden, Kinder und Jugendliche verstecken ihre Sexualität vor Erwachsenen weniger als in früheren Generationen, sie tragen sie in die Familie: Sie reden mit Eltern über Sex, sie machen ihre Doktorspiele unter den Augen der Eltern, Jugendliche haben ihre sexuellen Beziehungen im Elternhaus, beanspruchen früh, mit ihrem Liebsten oder ihrer Liebsten zu Hause zu nächtigen. Viele Eltern macht dieser offensive Umgang ihrer Sprößlinge mit der Sexualität etwas ratlos. Dadurch verändert sich die Inzestspannung in den Familien erheblich. Durch Ausgrenzung und Projektion wird das "sexuelle Böse" dann nach draußen getragen und dort gesehen, bei anderen. (Q) Wird aber durch den gegenwärtigen öffentlichen Diskurs über Kindesmißbrauch nicht gerade Sexualität für Kinder mit Angst besetzt, die Entwicklung der letzten Jahrzehnte also umgekehrt? Ja, die Unbefangenheit vieler Erwachsener ist dahin, was Folgen haben könnte; denn es ist wichtig für Kinder, zu Eltern, Groß- eltern, zu Erwachsenen auch eine körperlichsinnlich-zärtliche Beziehung - keine sexuelle - haben zu können - für den Erwachsenen übrigens auch. Diese wichtige "Pädophilie in uns allen", wird durch die öffentliche Debatte in Frage gestellt, verunsichert. Ich kann mir auch vorstellen, daß aufgeregte und tagtägliche Diskussionen Auswirkungen auf den Umgang von Kindern mit Sexualität haben können. Die Kinder lernen für sich, daß Sexualität etwas Lustvolles ist, doch in den Medien und Alltagsdiskursen treten Kinder nur als sexuelle Opfer in Erscheinung, Sexualität von Kindern, bzw. Sexualität, die mit Kindern zu tun hat, wird ausschließlich mit Mißbrauch, Gewalt und Mord in Zusammenhang gebracht. Möglicherweise ist der angestrebte Effekt, Kinder vor gefährlichen Übergriffen zu schützen, geringer, als die - ich sage mal: ungewollte - Nebenfolge, als die Präsentation der Sexualität als dunkler, gefährlicher Bereich, dem man besser aus dem Weg geht. (Q) Was halten Sie von Selbstorganisationen von Pädophilen? Die Selbsthilfegruppen sind sehr unterschiedlich. Von Gruppen, die ein harmonisierendes, verleugnendes, selbst-idealisierendes, apologetisches bis propagandistisches Bild von Pädophilie entwerfen, halte ich nichts. Grundsätzlich jedoch halte ich Gruppen von Minderheiten, insbesondere von ausgegrenzten Minderheiten, wie es auch die Pädophilen sind, für sehr wichtig: Zur Auseinander- setzung mit der Sexualität, zum Austausch von Erfahrungen, zur gegenseitigen Unterstützung. Pädophile sind in einer tragischen Situation. Ihre sexuelle Orientierung ist tief und strukturell bis in ihre Identität hinein verwurzelt, ihre Pädophilie gehört zu ihnen wie die Liebe zum anderen oder gleichen Geschlecht bei Hetero- oder Homosexuelle, nur mit dem Unterschied, daß das eine grundsätzlich erlaubt und das andere, eben die Pädophilie, grundsätzlich verboten und letztlich unmöglich ist. Vielen Dank für dieses Gespräch. Literaturhinweise · Schmidt, Gunter: Das Verschwinden der Sexualmoral. Über sexuelle Verhältnisse. Hamburg, 1996. · Dannecker, Martin: Sexueller Mißbrauch und Pädosexualität. In: Sigusch, Volkmar: Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Stuttgart, New York 1996, S. 266-275. · Sandfort, Theo: Pädophile Erlebnisse. Aus einer Untersuchung der Reichsuniversität Utrecht über Sexualität in pädophilen Beziehungen. [1987] · Lautmann, Rüdiger: Die Lust am Kind. Portrait des Pädophilen. Hamburg 1994. · Hoffmann, Rainer: Die Lebenswelt der Pädophilen: Rahmen, Rituale und Dramaturgie der pädophilen Begegnung. Opladen 1996. · Enders, Ursula (Hg.): Zart war ich, bitter war's. Handbuch gegen sexuelle Gewalt an Mädchen und Jungen. Köln 1995 [1990]. · Auch Indianer kennen Schmerzen, sexuelle Gewalt gegen Jungen. Ein Handbuch von Dirk Bange und Ursula Enders. Köln 1995 [1992]. · Glöer, Nele / Schmiedeskamp-Böhler, Irmgard: Verlorene Kindheit. Jungen als Opfer sexueller Gewalt. München 1990.